Aktuelles aus der Coaching Welt

Coaching mit dem Change Canvas  - Interview mit Dr. Martin Winkler

Dr. Martin Winkler, Experte für Organisationsentwicklung und Change, gibt uns einen Einblick, wie man Veränderungen mit den richtigen Fragen besser gestalten kann. Zudem erhalten Change Manager, Coaches und alle, die sich für Veränderungen interessieren, die Möglichkeit, ein fragenbasiertes Veränderungstool näher kennenzulernen: das Change Canvas. 
 

Veränderung kann auch etwas schönes sein

HR: Herr Dr. Winkler, im Vorgespräch haben Sie mir gesagt, dass Sie eigentlich kein Change Manager sind. Was genau stört Sie an dem Begriff?

Zum einen bin ich viel im IT-Kontext unterwegs und da sorgen die Begriffe „Change“ und "Change Management“ gelegentlich für Irritation, weil sie eher mit Software und ITIL  Best Practice Leitfaden und De-facto-Standard im IT-Service-Management – als mit dem Erleben und Verhalten von Menschen verbunden werden. Zum anderen macht „Organisationsentwickler“ für mich stärker deutlich, dass man die Gestaltung von Veränderungsprozessen nicht leichtfertig auf den professionellen Einsatz von Change Management Tools und Change Communication reduzieren darf, mit deren Hilfe man bereits entschiedene Maßnahmenkataloge möglichst widerstandsfrei an Mitarbeitende verkaufen möchte. 

HR: Das ist interessant. Im ersten Moment verbinden die meisten Menschen Change und Veränderungen mit negativen Dingen, mit Anstrengungen und Widerstand. Was begeistert Sie an diesem Bereich?

Vielleicht liegt es an meinen Erfahrungen in der Startup-Welt. Dort sind Veränderungen irgendwie normal und man spürt, wie alle sich gemeinsam weiterentwickeln und verbessern wollen. Aber eigentlich gilt das genauso für alle anderen Organisationen. Veränderung passiert ständig, selbst wenn sie von niemand bewusst „gemanaged“ wird. Den Fokus auf Widerstände zu legen, finde ich daher zu einseitig. Sich gemeinsam auf den Weg zu machen kann unheimlich viel Spaß machen. Dazu braucht es natürlich eine inspirierende Vision und ein geteiltes Zielbild. Und man muss sich auf die Veränderungsgeschwindigkeit des Systems einlassen. Pflanzen wachsen bekanntlich auch nicht schneller, wenn man an ihnen zieht. Gerade bei meiner Arbeit mit Jugendlichen im Gefängnis habe ich das gelernt. Man muss es aushalten können, wenn Menschen sich manchmal vermeintlich nur langsam verändern. Eine wichtige Rolle spielt folglich die Haltung, mit der man an eine Veränderung herantritt. Widerstand ist kein an sich unsinniges Verhalten, sondern Menschen verhalten sich vielmehr in ihrer Welt sinnvoll. Wenn Widerstand spürbar wird, sollte ich mir daher immer die Frage stellen: Habe ich die Welt des anderen richtig verstanden? Häufig verschiebt sich dadurch der Fokus in Richtung einer Veränderung der Rahmenbedingungen, in denen sich die Menschen befinden. Es geht darum nach Wegen zu suchen, um bisher nicht berücksichtige Blockaden zu beseitigen und Ressourcen zu aktivieren, um die Bereitschaft für eine Veränderung zu erhöhen. Ich habe selten Widerstand „aus Prinzip“ gesehen. Üblicherweise handeln Menschen aus nachvollziehbaren Gründen. Man sollte sich die Zeit nehmen, sich mit diesen Gründen auseinanderzusetzen. Nur dann kann man stringent aufzeigen, warum man wo mit der Veränderung hinmöchte, und dafür den richtigen Rahmen aufspannen. Genau dabei hilft das Change Canvas. 
 

Durch strukturierte Fragen Veränderungen besser angehen

HR: Sie haben im Laufe Ihrer Karriere ein Tool zur Strukturierung von Veränderungsprozessen entwickelt. Was genau beinhaltet das Change Canvas?

Das Change Canvas beinhaltet eine Sammlung von Leitfragen, die dabei unterstützen sollen, Veränderungsvorhaben nachhaltig aufzusetzen und in einem schrittweisen Prozess eine überzeugende und wirksame Change Story zu entwickeln. Eine gute Change Story ist dabei nicht etwa ein möglichst phantasievolles Märchen, das auf mysteriöse und fast schon zauberhafte Weise plötzlich Veränderungsbereitschaft entstehen lässt. Vielmehr umfasst eine gute Change Story ein möglichst präzises Thema der Veränderung und präsentiert dazu eine glaubwürdige und nachvollziehbare Geschichte im Hinblick auf das Warum, Was, Wer und Wie der Veränderung. Manchmal hat man den Eindruck, dass bei Change Prozessen zu Beginn wichtige Fragen ausgelassen werden, vielleicht auch um unangenehme Aspekte der Realität auszublenden. Das Change Canvas hilft durch systematisches Fragenstellen bei der Aufdeckung dieser Bereiche. Anhand der enthaltenen Leitfragen kann man sich das Thema der Veränderung sowie den notwendigen Prozess schrittweise und gemeinsam mit den von der Veränderung Betroffenen erschließen. Das Change Canvas lenkt dabei den Blick auf das Wesentliche und fokussiert auf die wichtigsten Aspekte, die man sich für die effektive Planung eines Veränderungsprojektes vergegenwärtigen sollte. 

HR: Neben der Entwicklung einer Change Story, wie hilft Ihnen die Methode, Veränderungsprozesse einfacher zu steuern und besser zu gestalten?

Das Zauberwort lautet Struktur zur Entwicklung eines gemeinsamen mentalen Modells. Es gibt zahlreiche Tools, mit denen man eine Veränderung strukturieren und planen kann. Entscheidend ist, dass man Tools hat, die dabei helfen, zunächst ein gemeinsames Bild davon zu entwickeln, warum man aufbrechen sollte und wo die Reise hingehen soll. Die im Change Canvas enthaltenen Leitfragen unterstützen Projektbeteiligte genau darin. Häufig sind die Verantwortlichen zu Beginn einer Veränderung noch sehr unklar in ihren Vorhaben. Konsequentes und systematisches Nachhaken bei der Klärung der Leitfragen führt hier Schritt für Schritt zu eindeutigeren und konsistenteren Sichtweisen – auch über Personen und Ebenen hinweg. Indem man das Change Canvas für eine Veränderung von unterschiedlichen Personen oder Teams ausfüllen lässt, lassen sich beispielsweise Widersprüche und individuelle Besonderheiten aufdecken. Dadurch schafft die Methode Transparenz zwischen den Ebenen und Bereichen. In den meisten Organisationen finden gleichzeitig verschiedenste Veränderungen statt. Das Change Canvas kann als übergreifendes Tool helfen, einzelne Veränderungen in einen größeren Kontext einzuordnen. So lassen sich Überschneidungen, Synergien und Konflikte aufdecken. Aber auch die Transparenz zwischen Change Manager oder Change Managerin und Projektbeteiligten wird gefördert. Bei der Anwendung des Change Canvas ist eine schnellstmögliche Kommunikation unabdingbar, um die eigenen Annahmen zu hinterfragen und Fehler bei der Strukturierung der Veränderung auszubessern. Zudem unterstützt das Change Canvas das Projektmanagement, indem an die einzelnen Fragen weiterführende Tools geknüpft werden können oder frühzeitig Themen in die Überlegung miteinbezogen werden, die erst im Verlauf der Veränderungsmaßnahmen relevant werden. Da wäre beispielsweise das Change Monitoring zu nennen, das häufig so lange vernachlässigt wird, bis die Veränderung ins Stocken gerät und kritische Stimmen lauter werden. 
 

Einsatzmöglichkeiten des Change Canvas

HR: Gibt es Situationen, in denen sich der Einsatz besonders anbietet? 

Besonders hilfreich ist es, das Change Canvas bereits ganz zu Beginn eines Veränderungsvorhabens einzusetzen. Man kann es nutzen, um die eigenen Gedanken zu sortieren oder um als Coach die Gedanken der Initiatoren von Veränderungen in einem strukturierten Rahmen anhand von vier übergeordneten Leitfragen festzuhalten. Man schafft damit eine Grundlage, um bei der Entwicklung einer überzeugenden Change Story fokussierter ins Sounding gehen zu können. Das kann mit ausgewählten Sparringspartnern, einem professionellen Coach oder bereits direkt mit von der Veränderung betroffenen Personen geschehen. Wenn es dabei nicht gelingt, andere mit der skizzierten „Storyline“ abzuholen, wie kann man dann erwarten, dass sie ihr Verhalten tatsächlich wie intendiert anpassen und auf diese Weise die Veränderung mittragen? Man kann das Change Canvas daher als Vorlage für „gedankliches Probehandeln“ nutzen, das man vollzieht, bevor man richtig loslegt. Unterschiedliche Sichtweisen bei der Beantwortung der Leitfragen und damit verbundene Iterationen in der Ausgestaltung des Change Canvas sind nicht als Fehler in der Anwendung zu betrachten. Vielmehr sind sie ein notwendiges Element bei der Entwicklung eines gemeinsamen Mindsets im Rahmen der Planung und Umsetzung jedes komplexeren Veränderungsvorhabens. Das Change Canvas sollte sich also idealerweise kontinuierlich mit dem Change Projekt weiterentwickeln und in enger Abstimmung mit den relevanten Stakeholdern schrittweise konkretisiert und präzisiert werden. Das Change Canvas soll immer wieder zur systematischen Diskussion anregen und dabei helfen, ein höheres Alignment während des gesamten Veränderungsprozesses zu erreichen.

HR: Gibt es auch einen Zeitpunkt, ab dem es zu spät ist?

Je später im Veränderungsprozess man anfängt, sich strukturiert mit den Leitfragen des Change Canvas auseinanderzusetzen und ein gemeinsames Bild der Veränderung zu entwickeln, desto paradoxer wird es. Im schlimmsten Fall wird sogar versucht, rückwirkend eine „sinnvolle Planung“ über einen eigentlich planlos ablaufenden Prozess zu stülpen, um durchgeführte Maßnahmen im Nachhinein irgendwie sinnvoll erscheinen zu lassen. Es kommt immer wieder vor, dass elementare Fragen erst gestellt werden, wenn massiver Widerstand aufkommt. Dann wird man sich plötzlich der Notwendigkeit von Change Management bewusst. Wobei es eigentlich schon die ganze Zeit stattgefunden hat, nur eben nicht gezielt und systematisch bezogen auf die verschiedenen Stakeholder des Veränderungsvorhabens.
 

Change Management braucht eine klare Struktur genau wie Coaching

HR: Neben dem Einsatz des Change Canvas. Welche drei Tipps würden Sie unseren Leser und Leserinnen für Ihr nächstes Veränderungsprojekt mit auf den Weg geben?

Egal ob mit dem Change Canvas oder durch eine andere Methode, man sollte nicht nur zu Beginn, sondern kontinuierlich während eines Veränderungsprozesses sicherstellen, dass alle Beteiligten eine gemeinsame Vorstellung, also ein geteiltes mentales Modell des Zielbildes der Veränderung und des Vorgehens zur Erreichung dieses Zielbildes besitzen. Man sollte entsprechend darauf achten, eine intensive Prozesskommunikation zu betreiben, gerade wenn eine Ergebniskommunikation nicht möglich ist, weil man noch keine endgültige Lösung vorzuweisen hat. Es mag ein deutsches Phänomen sein, dass wir Dinge erst dann bekannt geben möchten, wenn sie perfekt sind. Daher mal bewusst einen Prototyp oder eine Betaversion präsentieren, schnell in den Austausch gehen und sich Feedback einholen. Und schließlich bei der Gestaltung von Veränderungen iterativ vorgehen, das bedeutet regelmäßig den Stand der Veränderung zu monitoren und entsprechend evidenzbasiert das Vorgehen an die jeweiligen Bedingungen anzupassen. 

HR: Als HR Akademie München bilden wir Systemische Business Coaches aus. Gibt es aus Ihrer Sicht Überschneidungen zwischen Change Manager oder Chance Managerinnen und Coaches? Gibt es Eigenschaften oder methodische Vorgehensweisen, die beide Gruppen besitzen beziehungsweise nutzen sollten?

Schwierige Frage, weil es sowohl für Change Management als auch für Coaching unterschiedlichste Begriffsbestimmungen gibt. Beim Business Coaching ist man üblicherweise in einer überwiegend bilateralen Beziehung von Coachee und Coach. Change Management richtet den Blick hingegen stärker auf Systeme von Menschen im Rahmen einer Veränderung. Unabhängig davon kann das Change Canvas sowohl beim Change Management als auch beim Coaching unterstützen, dass man bei der Gestaltung von Veränderungen einer klaren Struktur folgt und zentrale Klärungspunkte für eine wirksame Change Story berücksichtigt.